Thorsten Kasel: Sonic Seduction​

Der Duisburger Maler Thorsten Kasel gibt in Eupen sein Debut mit der Serie Sonic Seduction und den für ihn typischen Großformaten weiblicher Schönheiten. Die Portraits jugendlich-femininer Idealtypen des 21. Jahrhunderts, die zuletzt sein Œuvre beherrschten, entwickelt er in seiner neuen Serie weiter, indem er sich einer der jüngsten Kunstgattungen überhaupt zuwendet: dem Musikvideo der Popmusik.

Clips der ersten Stunde, wie der 1975 zu Bohemian Rhapsody von Queen entstandene Kurzfilm, konstituierten den Beginn der Ära der Popvideos. In den Folgejahren wurde diese maßgeblich bestimmt durch den amerikanischen Musikfernsehsender MTV, der am 1. August 1981 an den Start ging und noch bis heute ausstrahlt. Dass ausgerechnet der Clip zu Video killed the Radio Star der Buggles als allererstes Video in der mittlerweile 40-jährigen Erfolgsgeschichte des Senders ausgesucht wurde, ist bezeichnend. In symbolischer Vorahnung läutete der Titel nicht nur einen Paradigmenwechsel in der Musikindustrie ein, sondern auch in unserem ganzen Musikerleben.

Musikvideos stehen dabei in der Tradition amerikanischer “Sound Slides“, von Hand kolorierter Bilder auf Glas, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert als Hintergrund für Konzerte und Gesangsaufführungen in den Pariser Vaudeville-Theatern, den Londoner Music Halls und den amerikanischen Nickelodeons zum Einsatz kamen. Von dort fanden sie ihren Weg in die Filmindustrie und entwickelten sich mit der aufkommenden Animation nach und nach zu einem ganz eigenen Genre.

Blickt man in der Geschichte noch weiter zurück, kann man im Storytelling der Schattentheater des Orients und Indonesiens seit dem 10. Jahrhundert Vorläufer erkennen. Gleiches gilt für die “crankies“, die kleinen beweglichen Panoramen, die im 18. und 19. Jahrhundert in Europa und den USA populär waren, um Musikdarbietungen mit visuellen Geschichten zu begleiten.

Anna & Elizabeth (Anna Roberts-Gevalt & Elizabeth LaPrelle), Lella Todd, 2015, video still, 6:36 min, NPR Music Tiny Desk Concert,
Quelle: www.youtube.com

In den vergangenen Jahrzehnten haben sich diese “illustrierten Lieder” mit ihrer Mischung aus Sound und Performance zunehmend zu Gesamtkunstwerken entwickelt. Durch sie wird die Musik nicht mehr nur ergänzt, sondern die beiden Darstellungsmittel sind mittlerweile untrennbar miteinander verwoben. Nicht länger ist erkennbar, ob die Musik sich des Bildes bedient oder das Gegenteil der Fall ist. In den Musikvideos der Gegenwart ist der “Paragone“, der Wettstreit der Künste, beigelegt: Bild, Musik und Dichtung stehen als Schwesternkünste Arm in Arm inmitten einer Komposition aus Video, Sound und Lyrics.

Doch hat diese Entwicklung auch ihre Schattenseiten: Indem das auditive Erleben der Musik durch die visuelle Bildsprache der Videos ergänzt wird, “verschwindet” der Song ein Stück weit hinter dem bewegten Bild. Wir sind nicht länger Zuhörer, sondern Zuschauer. Doch nimmt durch diesen Sinnes-Wandel das Potential unserer eigenen Vorstellungskraft ab. 

Früher nahm die Geschichte, die uns ein Lied erzählte, in jedem einzelnen unserer Köpfe eine eigene Dramaturgie an. Milliarden unterschiedlicher Szenen, Situationen und Gesichter entstanden, mit der sich jeder Geist eine eigene Welt baute. Doch das Video zum Song hebt das Privileg der Imagination auf. Indem die Story vorgegeben wird, indem andere für uns die Wahl der Kostüme, des Aussehens und der Handlung treffen, bedarf es für uns vor der Massenverdauung keiner individuellen Interpretation mehr.

William James Anderson, aka Will.i.am (*1975), Scream & Shout ft. Britney Spears (Official Video), 2012, video still, 2:44 min,
Quelle: www.youtube.com

In einer intermedialen Welt liegt nun der Medienwechsel vom Musikvideos in die Malerei nahe, insbesondere für einen Künstler wie Thorsten Kasel, der Inspiration immer direkt aus seiner Lebensumwelt schöpft. Dabei ist für seine Kunst der Videoclip aber nur Inspirationsquelle.

In Sonic Seduction begegnen wir so nicht nur einer großformatigen Übertragung in das statische Medium der Malerei, sondern wir erleben eine Erweiterung des audiovisuellen Geschichtenerzählens. In Werken jenseits der bloßen Illustration, führt der Künstler uns vor Augen, wie sehr die beiden Medien einander durchdringen, ja bedingen. Dabei ist die Geschichte, die Kasel mit Pinsel und Farbe erzählt, eine andere, als die der Kamera und des Mikrofons.

Wie alle Maler, muss auch Kasel sich aufgrund der der Malerei immanenten Eigenschaft der Stase für wichtige Moment der Handlung entscheiden, in deren Darstellung er die transiente, flüchtige Qualität des Films überwindet. So bricht er den Musikclip auf kleinste Einstellungen hinunter und durchstreift Szenen, Settings und Sequenzen nach seinen “fruchtbaren Augenblicken”, in dem die Essenz der Handlung kulminiert. In der Flut von Bildern findet er auf diese Weise Mikronarrative, die er für seine bildkünstlerische Behandlung verwenden und übersetzen kann. Leiten lässt er sich hierbei von Impuls und Gefühl. Die Szenen, die er auf der Leinwand einfängt, müssen ihn berühren, das ist die wichtigste Voraussetzung. Von diesem Startpunkt entfalten sich Momente der Handlung, Augenblicke der Ruhe und Augen-Blicke voller Emotionen.

Thorsten Kasel, Every Eye is on us, 2018, Acryl auf Leinwand, 190 x 110 cm

Meisterlich gelingt es ihm dabei letztlich sogar, den Stillstand des Darstellungsmoments zu überlisten: Das Performative des Films findet sein Pendant im Performativen des Schöpfungsaktes, in dem Kasel das Ephemere der Musikvideos einfängt. Poppig-bunte, übersättigte Farbklänge überlagern einander und bilden so in den Bildkompositionen Symphonien oder Kakophonien – beides bewusst gesteuert und gewollt.

Wild geschleudert, eilig getropft und hastig gegossen, rinnen, zucken und fließen die Farben im Staccato ineinander und über die Leinwand, hin zu traumhaften, ja phantomhaften Impressionen. In Farbwahl und Farbauswahl hallt das Echo des schrillen, flackernden Tenors der Musikvideos wider. In seiner übersättigten Technicolor-Welt wird Kasel vor der Leinwand und zum Sound von Indiepop zum Schamanen, im ekstatischen Trancetanz mit seinen Musen.

Thorsten Kasel, Sunnymimmi, 2020, Acryl auf Leinwand, 120 x 80 x 5 cm

Jung, hübsch und lasziv müssen sie sein, Kasels Musen, die seinem ganz persönlichen Olymp entstiegen und direkt auf seine Leinwand getanzt sind. Dieser Idealtypus ist in seinem Œuvre derart prävalent, dass auch der Realtypus darauf hin transformiert wird. Auch das Mädchen von Nebenan wird unter Kasels bildkünstlerischer Regie zum Inbegriff der jugendlichen Verführung.

Thorsten Kasel, Late Night Feelings Part 2 (0:42/3:40), 2020, Acryl auf Leinwand, 100 x 100 cm

Und in der Musikvideoserie wird dieses Schönheitsideal noch um eine weitere, spannungsreiche Facette erweitert: Denn die Nymphen aus Sonic Seduction sind nur auf den ersten Blick niedlich.

Mark Bronson (*1975), Late Night Feelings (Official Video) ft. Lykke Li, 2019, video still, 0:42 min,
Quelle: www.youtube.com

Hinter der perfekt inszenierten Fassade schimmert etwas Dunkles, lauernd und hungrig. Es ist eben nicht das nette Mädchen von Nebenan, das durch Kasels Bilderwelt rockt, sondern verführerische Sirenen, Variationen der femme fatale – gnadenlos selbstbestimmt und sexy, dabei umweht von einem Hauch der Gefahr und des drohenden Verderbens.

Auf der Deutungsebene kommen Erinnerungen an Franz von Stucks Tilla Durieux als Circe und an Edvard Munchs Vampir auf:

Franz von Stuck (1863 – 1928), Tilla Durieux als Circe, ca. 1913, Öl auf Holz, Alte Nationalgalerie, Berlin, Deutschland

Edvard Munch (1863 – 1944), Vampyr (Vampir), 1893, Öl auf Leinwand, Munchmuseet, Oslo, Norwegen

Oder an die großen Frauenfiguren der Kunstgeschichte mit den Köpfen von Männern: Nachfahrinnen von Judith und Salome sowie der erst kürzlich Furore machenden neuen Medusa mit dem Haupt von Perseus des argentinischen Bildhauers Luciano Garbati – medienwirksam positioniert gegenüber des Familiengerichts in Manhattan.

Lucas Cranach d.Ä. (1472 – 1553), Judith mit dem Haupt des Holofernes, ca. 1530, Öl auf Lindenholz, Kunsthistorisches Museum, Wien, Österreich

Lucas Cranach d. Ä. (1472 – 1553), Salome mit dem Kopf Johannes des Täufers, 1530er, Öl auf Pappelholz, Museum of Fine Arts, Budapest, Ungarn

Luciano Garbati, Medusa with the Head (Medusa mit dem Haupt), 2008, glasfaserverstärktes Harz,
Quelle: www.lucianogarbati.com

Sie alle erzählen auf ihre Weise von der Weibermacht, dem Triumph der Frau und ihres erotischen Zaubers über den Mann: Hier wird die Frau zum Inbegriff der Wollust, der Mann zum liebeskranken Tor. Und dies führt uns zurück zu Kasel. Mit eben diesem Blick auf die Weiblichkeit reiht er sich ein in einen Chor großer Künstler, deren Darstellungen verhängnisvoller, sirenenhafter Frauen als Projektionsflächen für männliche Phantasien im Grunde mehr über die Schöpfer erzählen als über die Dargestellten.

Hans Baldung Grien (1484/5 – 1545), Aristoteles und Phyllis, 1515, Holzschnitt, Papier, The British Museum, London, UK

Als singende Halbgöttinnen in Brassiere, Netzstrumpfhosen, High Heels und übersteigerter Selbstinszenierung, stehen Kasels Sängerinnen jenseits von Genderdebatten repräsentativ für alle Künstler:innen im 21. Jahrhundert: So wie es schon längst nicht mehr reicht, “nur” gute Musik zu produzieren, so reicht es auch schon längst nicht mehr, “nur” gute Kunst zu machen. Im dritten Jahrtausend kann der Künstler nicht mehr “nur” Meister seines Faches sein, sondern muss mit Pinsel und Farbe versiert umzugehen wissen und dabei gleichzeitig virtuos die Klaviatur der Medien und sozialen Netzwerke spielen.

Thorsten Kasel,
Electricity Vertical Part 4 (1:36/3:58), 2019,
Acryl auf Leinwand, 160 x 90 cm

Silk City & Dua Lipa,
Electricity (Vertical Video), 2018,
video still, 1:36 min,
Quelle: www.youtube.com

Die übermenschlichen Darstellungen der Pop-Königinnen werfen die Frage auf, wie viele der heutigen Superstars wirklich das sind, was sie zu sein vorgeben? Hat unsere Generation wirklich derart viele Ausnahmetalente hervorgebracht? Oder sind viele dieser vermeintlichen Universalgenies vielleicht doch eher Produkte mediengewandter Marketingkampagnen und pfiffiger Inszenierungsaktionen?

Und wenn diese gigantischen Allrounder, die unser Leben bevölkern – ja, es vielleicht sogar bestimmen -, nicht das sind, was sie zu sein scheinen, müssen wir uns fragen, welche Vorbilder uns als Projektionsflächen unserer wirklichen Ideale und Ziele noch bleiben? Mit wem teilen wir Werte? Und auf welchen Plattformen begegnen wir diesen Menschen?

Wie sich jüngst zeigte, werden diese Fragen besonders spannend in Zeiten der Pandemie. Zurückgeworfen auf unseren eigenen, gerade im urbanen Raum oft sehr kleinen, singulären Orbit, der viele von uns abschnitt von echten menschlichen Begegnungen, spielte sich das gesellschaftliches Leben vor allem virtuell ab. In unsere Echokammer beteiligten wir uns digital an genau dem Weltgeschehen, das uns ansprach, und führten Beziehungen mit Menschen, die wir nur über Zoom kannten – und mit den Heldinnen und Helden unserer Bildschirme, groß und klein.

Thorsten Kasel, Late Night Feelings Part 1 (0:06/3:40), 2020, Acryl auf Leinwand, 100 x 100 cm

So verbrachten wir in einer zunehmend digitalen Welt mehr und mehr Zeit mit unseren virtuellen Bekannten. Bis die Bühnen- und Leinwandstars zu Vertrauten, Verbündeten, Geliebten wurden, die uns anstatt echter Menschen vom Leben erzählten. Kasels enge Auseinandersetzung mit den Protagonistinnen der Musikvideos führt uns das auf seine ganz eigene Art vor Augen.

Thorsten Kasel,
Electricity Vertical Part 5 (2:03/3:58), 2019,
Acryl auf Leinwand, 160 x 90 cm

Silk City & Dua Lipa,
Electricity (Vertical Video), 2018,
video still, 2:03 min,
Quelle: www.youtube.com

Durch die Auswahl genau eines Moments aus der filmischen Vorlage, führt Kasel die Story von dem was sie im Video ist zurück in das, was sie sein könnte und beflügelt damit unsere schlummernde Vorstellungskraft.

In Thorsten Kasels Sonic Seduction ist die Musik verklungen und die bewegten Bilder sind zur Ruhe zu kommen. Doch indem er uns genau an dieser Stelle den Pinsel übergibt, erweckt er unsere innere Farbklangwelt zum Leben und verführt uns zur Phantasie.

Nathalie Krall, M.A.
Kunsthistorikerin, Düsseldorf, 2021

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